Italien

Von wegen „Süden“

Varazze – Castel del Piano, erste Etappe

Radgefahren bin ich schon viel in meinem Leben. Jetzt aber wage ich mich etwas anders an dieses Thema heran. Was seinen Platz sonst im Rucksack findet kommt dieses Mal auf einen Gepäckträger, ich und mein Leben kommen aufs Rad. 3 Monate habe ich mir vorgenommen. Meine ehrgeizigen Ziele habe ich dabei eh schon heruntergeschraubt. Ich traue mich zu sagen, dass ich einiges an Erfahrung im Backpacken habe. Trotzdem habe ich etwas Bammel als ich an der Ligurischen Küste den letzten Kaffee trinke, mich verabschiede und ganz alleine auf zwei Rädern Richtung Süden, Richtung Frühjahr trete. Knapp 400 Kilometer heißt es auf dieser ersten Etappe hinter mich zu bringen. Entlang der Mittelmeerküste bis Castel del Piano in der Toscana. Es ist März und noch empfindlich kalt. Meine Fitness ist nach dem noch allgegenwärtigen Winter im Keller. Nach dem einrollen auf der - zugegeben ziemlich unangenehmen - Hauptstraße entlang der Küste verlasse ich diese endlich in Richtung eines deutlich anstrengenderen, aber schöneren Waldweges. Die Kälte macht die Nächte kurz und wenig erholsam. Recht früh tauchen deshalb die große Kuppel und der so markante schiefe Turm vor meinen müden Augen auf. Pisa ist um diese Jahreszeit (und vielleicht auch um diese Uhrzeit) fast eine italienische Kleinstadt wie viele andere auch. Es herrscht die typische Mischung aus Betriebsamkeit und Ruhe. Es herrscht die Ruhe vor dem Sturm. Immobilienhändler, Eisdielen und Strandbars haben noch geschlossen. In den Cafés und Läden wird italienisch gesprochen. Es macht noch nicht den Eindruck als erwarte man schon Ausländische Gäste. Außer eben diesem schiefen Turm. Und der zieht auch jetzt schon Busladungen von japanischen Touristen an. Nach einer kurzen Runde durch die Stadt und zwei angenehm wärmenden Cappuccini geht es zurück Richtung Küste. Wie ein Bergsalamander räkle ich mich eine Stunde später in den ersten warmen Sonnenstrahlen des Tages. Ganz eng presse ich mich in die Windgeschützte Ecke einer Hausruine. Die Temperaturen klettern auf eigentlich angenehme 22 Grad. Mir steckt aber noch immer die Kälte der vergangenen Nacht in den Gliedern. Italien ist schön in diesen Tagen. Keine Touristenströme drängen über die Piazzas, die Strände sind nahezu menschenleer. Das Meer rollt ruhig und türkisfarben an Land und wirkt trotz der Kälte beinahe einladend.
Als ich mich am nächsten Morgen aus dem Zelt quäle traue ich meinen Augen nicht. Es liegt Schnee, überall. Nach einigen Kilometern im schneidenden Wind entscheide ich mich der Fahrt Richtung Süden etwas an Tempo zu verschaffen und mit dem Zug etwas nachzuhelfen. In Grosseto angekommen war der Regen inzwischen in strömenden Regen übergegangen. Die Aussicht auf einige Tage Ruhe und Erholung in Castel del Piano treibt mich weiter, immer weiter. Und es sollte sich lohnen. Mein Studienfreund betreibt mit seiner Familie am Fuße des Monte Amiata ein einsames Landgut mit ausgezeichneten Olivenhainen. Hinunter ins Tal ziehen sich Olivenhaine sowie Kastanien- und Buchenwälder soweit das Auge reicht. Oberhalb thront Castel del Piano, wie beinahe alle toskanischen Orte, auf einer Anhöhe. Obwohl nicht weit entfernt, so ist man doch losgelöst vom alltäglichen Trubel. Ohne Telefon, Fernseher und Internet läuft das Leben langsamer und bewusster. Gerade morgens genieße ich die Ruhe. Nach dem Kälteeinbruch über ganz Italien sind jetzt angenehm frühlingshafte Temperaturen angesagt. Mit einer Tasse Kaffee vom Holzofen setzte ich mich in eine sonnige und windstille Ecke und schaue den Bienen und Ameisen zu. Wenn das allgemeine Aufwachen und Frühstücken vorbei ist, beginnt aber auch hier die Arbeit. Bis zum Sonnenuntergang wird gepflastert, gespachtelt, geschnitten und gesägt, auf dass das altehrwürdige Gemäuer noch viele Winter überstehen mag. Abends versammeln wir uns alle wieder um den rauchigen Ofen in der Küche. Wie jeden Tag versorgt uns Charly, Pauls Vater, mit mediterranen Köstlichkeiten. Auf unser tägliches Lob für die ausgezeichnete Küche antwortet er nur schulterzuckend „Hat der Ofen gemacht“. Und damit hat er gar nicht so unrecht. Tagelang köcheln Charlys geheimnisvollen Töpfe auf dem stets brennenden Ofen der das ganze Haus erwärmt.
Man könnte immer so weitermachen. Aber die Stimme in meinem Kopf wird immer lauter. Sie verlangt nach Anstiegen, nach Abfahrten, nach Anstrengungen und nach Überraschungen. Und so sitze ich plötzlich wieder auf dem Bike.

Nur wenige Wege führen durch Rom

Castel del Piano – Rom, zweite Etappe

Beinahe jedes Dorf in der Toskana liegt auf einer Anhöhe. Dazwischen liegen unzählige Bachbetten die sich tief in die Landschaft geschnitten haben und so wunderbare Hügellandschaft der Toskana geformt haben. Immer Kleiner, immer abgelegener immer vergessener werden die Dörfer durch die ich durchs Hinterland fahre.


Kilometerweit nichts als Felder, Plantagen und Natur. Feld- und Waldarbeit bestimmen das Leben, jetzt. Im Sommer verdrängt wohl auch hier der Tourismus dieses scheinbar so alltägliche Leben.Teils holpere ich über steinige Feldwege die mir so bepackt kaum fahrbar erscheinen. Wieder Asphalt unter den Reifen merke ich plötzlich wie sich mein Gespür für den Fahrradschwertransporter unter mir verändert haben. Einige Anstiege und Abfahrten später beginnt die Straße wieder abzufallen, diesmal kilometerweit und plötzlich taucht am Horizont das Meer auf. Rom ruft und ich komme Kilometer für Kilometer näher. Die direkte Fahrt in Richtung Süden schlägt sich nun auch auf die Temperaturen nieder. Mittags reicht es im T-Shirt zu biken, morgens genügt ein Pullover um sich den Weg aus dem Schlafsack zu bahnen. Nach drei langen Bike-Tagen besteige ich den Zug und rolle nur eine halbe Stunde später im Roma Termini ein.

Klar, Rom ist außergewöhnlich. Außergewöhnliche Architektur, außergewöhnliche religiös-geschichtliche Bedeutung und ein außergewöhnliches Sammelsurium verschiedenster Epochen europäischer Geschichte. Aber es ist eben auch mit einem außergewöhnlichen Straßenverkehr gesegnet.
Um das wichtigste gleich vorweg zu nehmen: Der italienische Verkehr muss immer im Fluss bleiben. Natürlich gilt auch hier in letzter Instanz immer das Recht des Stärkeren, in erster Linie lautet die Devise aber: Nicht stehen bleiben! Bloß den scheinbar chaotischen Flow nicht stören oder gar unterbrechen. Denn das löst eine Kettenreaktion aus die beinahe zwangsläufig zu einem Stau oder noch schlimmeren führt. Vor jeder Kreuzung gilt es daher genau zu überlegen: Innenkurve oder Außenkurve? Schnell oder langsam? Vor oder hinter dem Bus? Den Rollerdfahrern nach oder doch auf eigenem Weg? Dem Strom aus welcher Richtung folgen um die Kreuzung in welche Richtung wieder zu verlassen? Und alles das ohne Stehen zu bleiben! Gelingt dies nicht liegt binnen Sekunden die ganze Kreuzung lahm. Oft kommt dies aber nicht vor. Viel häufiger ist es da schon, dass nicht ich sondern eben jener Flow die Route bestimmt. Ist oben geschilderte Situation nicht gut genug geplant, schleust einen der Verkehr einfach gerade über die Kreuzung. Auf den großen Straßen läuft es logischerweise etwas anders. Dann gilt es mit einem möglichst kräftigen Start einige Meter gegenüber den Autos zu gewinnen und dann möglichst in der hinter einem heranrollenden Welle mit zur nächsten Ampel zu schwimmen. Nach den langen Überlandstrecken komme ich mir dabei vor wie ein Zeitfahrer beim Rennen gegen die Uhr. Gemeinsam mit den Rollerfahrern geht es immer weiter durch den Großstadt-Dschungel. Kurze Antritte, enge Kurven, vierspurige Straßen, Fußgängerzonen, von allem etwas. Es macht unglaublichen Spaß, anstrengend ist es trotzdem. Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit könnte auf der Motorhaube eines Fiat Pandas oder zwischen den Reifen eines Busses enden. Nach sechs Stunden im Gewühl ist es dann genug. Die Akkus sind leer. Die Augen sind schwerer als die Beine. Man könnte wohl tatsächlich Wochen in Rom verbringen und könnte sich doch nicht satt sehen. Froh bin ich trotzdem wenn es am nächsten Morgen wieder hinaus in die Berge geht.


Neapel - die etwas andere Stadt

Einsame Täler dominieren meine restliche Zeit in Italien. Durch das Hinterland kämpfe ich mich über die Hügel und werde mit einsamen Stunden, Tage und Nächten mit genialen Ausblicken belohnt. Dann geht es wieder hinein in die Großstadt. Dieses Mal heißt sie Neapel. Neapel lebt nicht mit dem Fußball, es lebt für den Fußball. So verwundert es kaum, dass auch gut 20 Jahre nach seiner Zeit beim SSC Napoli Diego Armando Maradona noch immer ein Volksheld ist. Und mehr noch, er ist zu einer Art Wahrzeichen fuer diese Stadt geworden. Wo anderenorts Repliken von Kathedralen und antiken Statuen verkauft werden, strahlt hier das Portrait dieses Ausnahmefußballers aus jedem Souvenirstand. Er machte Neapel zum italienischen Meister und schoss Argentinien mit Hilfe der Hand Gottes zum Weltmeister. Seither macht er überwiegend Schlagzeilen durch sein Übergewicht, seine Kokainsucht und seine enge Verbindung zu Fidel Castro. Aber wer wenn nicht er könnte symbolisieren was diese Stadt ausmacht. Der geniale Fußballer bei dem Licht und Schatten so eng beisammen liegen.

Ich habe aus meinen Fehlern gelernt und diesmal im Vorhinein ein Hostel reserviert. Via Melisurgo, nur wenige Schritte von Neapels größten Sehenswürdigkeiten entfernt. Eine gute Adresse möchte man meinen. Während ich aber die Müllberge umschiffe zeigt sich die Stadt von einer anderen Seite. Das Angebot des Tages lautet 3 Porno-DVDs für nur 5 Euro und aus jeder zweiten Gasse zischt es "pst, pst,...Haschiiiisch"
Ein typisches Bild für diese Stadt. Auf der Via Antonio Depretis reiht sich eine teure Boutique an die andere. Davor stehen unzählige Schwarzafrikaner und bieten die scheinbar gleichen Produkte für einen Bruchteil des Preises an. Man stolpert über enge Gassen mit schiefem Kopfsteinpflaster und steht plötzlich auf dem Piazza Municipio, der meiner Meinung nach einer der schönsten in ganz Italien ist. Zum Meer hin reihen sich lebensgroß weiße Statuen der Helden vergangener Tage. Abenteurer aus einer Zeit als von hier aus noch Schiffe in See stachen um die letzten weißen Flecken auf der Landkarte zu beseitigen. Und dann ist er wieder da. Der kleine Argentinier mit dem zweifelhaften Ruf. Eben ein außergewöhnliches Wahrzeichen für eine außergewöhnliche Stadt.


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Eine Nacht im Wald

 Livorno - Rom, ein halbes Jahr später

Roma 278 km. Während ich Donoratico verlasse ziehen dunkle Regenwolken über den Himmel. Immer wieder gehen an diesem Tag sintflutartige Regenfälle über mir herunter. Am nächsten Morgen ist der Spuk vorbei. Stattdessen verwandelt die sengende Hitze und die nun aufsteigende Feuchtigkeit die Toskana in einen nahezu tropischen Schmelzofen. Als ich an diesem Abend völlig erschöpft vom Rad steige sind es nur noch 57 km bis zur ewigen Stadt. Noch ahne ich nichts davon was in dieser Nacht noch auf mich wartet...

Circa einen halben Kilometer hinter Vetralla fahre ich in einen Feldweg und finde schon nach wenigen Metern mein Ziel. Ein Haselnusshain scheint mir wie geschaffen um als Schlafplatz zu dienen. Wie üblich warte ich fast bis zur Dunkelheit damit mein Zelt aufzustellen und mich häuslich einzurichten. Die Zeit bis dahin überbrücke ich mit einer Fertigsuppe aus serbischen Restbeständen mit frischer Mais- und Tomateneinlage. Gerade als ich bereit bin den ersten Löffel zu kosten, lärmt es aus dem angrenzenden Waldstück. Mit einem Schlag bricht eine ganze Horde Wildschweine aus dem Dickicht. Manche reichen mir gerade einmal bis zum Knie, das Größte allerdings misst mindestens 1,20 Meter Schulterhöhe. Nur etwa drei bis vier Meter von mir entfernt spazieren nun genüsslich grunzend circa ein Dutzend Wildschweine durchs frischgemähte Gras. Von mir scheinen sie kaum Notiz zu nehmen. Warum auch? Sie kennen ihre Stellung in diesen Wäldern und ein lausiger Radfahrer sorgt da für wenig Aufregung. Auch ich bin zunächst wenig beunruhigt. Dies ändert sich schlagartig als ich die harten Nüsse zwischen ihren mächtigen Kiefern brechen höre und mir der mächtige Eber anhand eines grimmigen Grunzens die Frage nach der Revierhoheit stellt. Anmerken lasse ich mir dies natürlich nach Möglichkeit nicht. Langsam richte ich mich zu voller Größe auf und grunze zurück. Den noch immer brennenden Gaskocher halte ich in meiner, inzwischen etwas zittrigen, linken Hand und er könnte notfalls als Waffe dienen. Die rechte Hand umklammert bereits die Astgabel über meinem Kopf. Diese könnte als Zuflucht dienen. Die Flucht wäre mir dann doch lieber als ein Kräftemessen mit einem wütenden Eber.
Doch mein Auftritt zieht. Vorerst verschwindet die gesamte Meute wieder im Wald. Aber die Frage nach der Revierhoheit ist für mich geklärt: Die liegt eindeutig bei der Sau! Ich verlasse den Platz und schlage mein Zelt einige Meter näher an der Straße auf. Inzwischen herrscht natürlich völlige Dunkelheit. Ich setze noch einige Duftmarken rund um mein Zelt herum und lege mich schlafen. Immer wieder erwache ich vom Grunzen der Schweine, meine künstliche Höhle aber scheint nun sicher zu sein und ich erwache am nächsten Morgen unversehrt und um ein Abenteuer reicher.